MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus

MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus

Veranstalter
Die Unabhängige Historikerkommission „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“; Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin
Veranstaltungsort
Akademie der Künste
PLZ
10117
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.04.2023 - 16.07.2023

Publikation(en)

Cover
: Die Unabhängige Historikerkommission „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin (Hrsg.): MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus. Berlin 2023 : Akademie der Künste, ISBN 978-3-88331-254-5 (dt.) / 978-3-88331-255-2 (engl.) 320 S., 420 Abb. € 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annika Wienert, Max Weber Stiftung, Bonn

Die Entstehungsgeschichte der Ausstellung „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ zu erklären, ist ein wenig kompliziert. Das Bundesbauministerium setzte 2017 eine Unabhängige Historikerkommission (UHK) ein, welche ein Forschungsprogramm entwickelte, um die Beteiligung von Personen und Institutionen an den NS-Verbrechen im Bereich Planen und Bauen zu untersuchen. Dazu wurden 15 Forschungsaufträge definiert, die von 28 Wissenschaftler:innen über einen Zeitraum von drei Jahren bearbeitet wurden. Während dieser Phase wurde wenig bis gar kein Kontakt zur übrigen Fachcommunity oder zur interessierten Öffentlichkeit gesucht. Die Forschungsergebnisse liegen nun in Form einer vierbändigen Publikation mit dem Titel „Planen und Bauen im Nationalsozialismus. Voraussetzungen, Institutionen, Wirkungen“ vor1; über den ursprünglichen Auftrag hinausgehend wurde zudem eine Ausstellung entwickelt. Diese hat Benedikt Goebel unter Mitarbeit von Harald Bodenschatz und Angelika Königseder kuratiert, in Kooperation mit der UHK und weiteren Forscher:innen sowie „in enger Abstimmung mit der Akademie der Künste“ (Katalog, S. 9), in deren Gebäude am Pariser Platz sie zu sehen ist.


Abb. 1: Eingangssituation: Vom großzügigen, lichtdurchfluteten Foyer des Neubaus geht es in die historischen Räume der Akademie.
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Foto: © Andreas FranzXaver Süß)


Abb. 2: Der Prolog zur Ausstellung im Foyer thematisiert den Akademiebau sowie die verschiedenen Ämter und Funktionen von Albert Speer.
(Foto: Janaina Ferreira dos Santos, ZZF Potsdam, CC BY-SA)


Abb. 3: Die „Kernbotschaften“ der Ausstellung stehen am Anfang des Besuchs.
(Foto: Annika Wienert, CC BY-SA)

Den Auftakt zur Ausstellung bildet die Geschichte des Akademiebaus selber, ab 1937 Dienstsitz von Albert Speer als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt (Abb. 2). 1945 wurde das Haus schwer zerstört; der 2005 eröffnete Neubau von Günter Behnisch integriert jedoch einige Überreste. In dieser Enfilade historischer Räume wird die Ausstellung präsentiert. Vor dem Eintritt in den ersten Raum proklamiert eine Texttafel die fünf Kernbotschaften des Ausstellungsteams (Abb. 3). Das Ausbuchstabieren einer didaktischen Zielvorgabe wirkt befremdlich, die Formulierungen erscheinen teils ungenau und vage („sehr vielen Baufachleuten und Bauunternehmern“ müsse „eine Mitverantwortung […] zugeschrieben werden“; bestimmte Bauten seien „prägendes Ergebnis der Dynamik und Radikalisierung des Planens und Bauens“; zur „baubezogenen Erinnerung nach 1945“ hätten „Verdrängungen“ gehört – Einleitung der UHK, S. 9f. im Katalog). Offenbar gab es ein starkes Bedürfnis, den Gegenstand der Ausstellung einzuhegen, mit Warn- und Gebrauchshinweisen zu versehen, begleitet von einem Misstrauen in die Urteilskraft des Publikums und letztendlich einer gewissen Furcht vor den Exponaten selbst.


Abb. 4: Blick in den ersten Raum
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Foto: © Andreas FranzXaver Süß)

In diese Richtung lässt sich auch das Ausstellungsdesign deuten. Die Ausstellungsarchitektur von Roswitha Kötz basiert auf freistehenden Gerüsten aus Theaterlatten, an welche die Texte und das Bildmaterial in verschiedener Höhe angetackert sind (Abb. 4). Das „arme“ Material bricht jeglichen Gedanken an eine Nobilitierung der Exponate qua musealer Präsentation. Die Anordnung der Gerüste und die Anbringung der Bilder lassen keine langen Sichtachsen zu, und statt einer eindeutigen Wegführung ergibt sich ein eher labyrinthischer Eindruck. Die Bilder, sämtlich Reproduktionen, wirken nicht wie das Eigentliche des Projekts, sondern eher als beispielhafte Illustrationen, die vielfach auch durch andere Motive ersetzt werden könnten. Bewegte Bilder scheinen besonders bedrohlich zu sein: Historischem Filmmaterial, das an verschiedenen Stellen in das Ausstellungsdisplay eingebunden ist, ist jeweils ein Disclaimer vorgeschaltet, dass „die Ideologie des Nationalsozialismus“ wiedergegeben werde: „Wir distanzieren uns von den darin enthaltenen Werturteilen und verweisen auf die Darstellungen in den Ausstellungstexten.“ Es gilt also das Primat des Textes, auch wenn die Ausstellungstexte recht kurz sind und somit notgedrungen wenig erklären.

Es gehört dessen ungeachtet zu den Verdiensten der Ausstellung, zahlreiche Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft zu adressieren, die durch das Forschungsprojekt in den Blick gerieten. Die Präsentation befasst sich mit dem Wohnungs- und Siedlungsbau, mit Repräsentationsbauten für Partei und Staat, mit Lagern verschiedener Typen, mit Infrastrukturprojekten und Raumplanung. Sie gibt Hinweise auf den internationalen Kontext einzelner Bauaufgaben, thematisiert Kontinuitäten nach 1945 und stellt schließlich auch die Frage nach dem Umgang mit den baulichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus.


Abb. 5: Grafik aus einer Schrift des „Reichsheimstättenamtes“ von 1935, in der sowohl der Wohnungsbau des Kaiserreichs als auch der Weimarer Republik geschmäht werden. Davor Modelle auf Grundlage dieser schematischen Darstellungen, die für die Ausstellung neu angefertigt wurden.
(Foto: Annika Wienert, CC BY-SA)

Die Themen sind grob chronologisch geordnet. Der erste Raum befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Wohnungsbau der 1930er-Jahre; präsentiert wird die nationalsozialistische Hetze gegen das Bauen der „Systemzeit“ und gegen die Großstadt allgemein (Abb. 5). Gigantomanische Pläne für Repräsentationsbauten werden hier beispielhaft erläutert, ebenso das Lager als Signum des Nationalsozialismus, das sich durchaus auch an die „Volksgemeinschaft“ richten konnte, wie die „SS-Kameradschaftssiedlung“ in Berlin-Zehlendorf (heutige „Waldsiedlung Krumme Lanke“) oder das „Gemeinschaftslager“ für angehende Juristen in Jüterbog zeigen. Auch dieser Typus Lager war einerseits mit Disziplinierung und Kontrolle verbunden, andererseits mit Zwangsarbeit sowie der Enteignung und Vertreibung jüdischer Hausbesitzer:innen und Mieter:innen. Die behauptete „Gleichschaltung“ des Bundes Deutscher Architekten (BDA; siehe Ausstellungstafel 1–51, Katalog S. 70) ist hingegen an anderer Stelle schon kritischer und genauer dargestellt worden; der BDA hatte sich zunächst selbst „gleichgeschaltet“ und die jüdischen Mitglieder ausgeschlossen.2

Der zweite Raum widmet sich Infrastrukturprojekten und dabei vor allem der Reichsautobahn, zeigt mit einer Auswahl an Privathäusern der NS-Elite die Bandbreite der Formen und des Geschmacks, thematisiert die Altstadtsanierungen mitsamt ihrem biologistischen, pathologisierenden und moralisierenden Vokabular wie „Entschandelung“ und „Stadtgesundung“ und weist schließlich auf die Vielzahl an Kasernenneubauten hin.



Abb. 6 und 7: Im zentralen Raum der Ausstellung liegt der Schwerpunkt auf den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die interaktive Installation bietet umfangreiche Informationen zum KZ Flossenbürg.
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Fotos: © Andreas FranzXaver Süß)

Das Zentrum der Ausstellung ist der dritte Raum. In der Mitte steht eine interaktive Doppelprojektion zum Konzentrationslager Flossenbürg (Abb. 6 und 7). Auf einem Tisch sind die Geländeerhebungen sowie einige Bauten nachgebildet, darauf wird die Lagerstruktur projiziert. Es gibt ein Touchmenü, mit dem Informationen zu einzelnen Aspekten des Lagers auf der vertikalen Leinwand abgerufen werden können. (Die Installation wurde eigens für die Ausstellung entwickelt und wird im Anschluss in der Gedenkstätte Flossenbürg gezeigt werden.) Planen und Bauen werden in Bezug auf die Konzentrationslager zweifach thematisiert: zum einen durch die Bedeutung der Zwangsarbeit für die Bauindustrie wie im Steinbruch in Flossenbürg oder im Klinkerwerk in Sachsenhausen, zum anderen durch die Planung und den Bau der Lager selbst. Dieser Aspekt wird mit der übergroßen Reproduktion eines Fotos von Architekten im Büro der Zentralbauleitung des KZ Auschwitz visualisiert.


Abb. 8: Großformatige Reproduktion eines Fotos, das die SS-Zentralbauleitung des KZ Auschwitz zeigt
(Foto: Annika Wienert, CC BY-SA)

Die Audiostation hingegen, an der kurze Ausschnitte aus Berichten von vier Überlebenden der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ anzuhören sind, wurde von der Rezensentin bei ihrem Besuch schlicht übersehen. Die Vernichtungslager in Bełżec, Treblinka und Sobibór sowie das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz werden mit kurzen Texten und mit Bildmaterial unterschiedlicher Provenienz präsentiert. Zusätzlich finden sich in diesem Raum großformatige farbige Luftbilder der Gedenkstätten, aufgenommen ab 2012 von Rainer Viertlböck unter dem Titel „Strukturen der Vernichtung“. Damit wird ein Bezug zur Gegenwart hergestellt, dem ein Appell zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen inhärent ist. Die Opfer dieser Verbrechen bleiben leider weitgehend eine anonyme Masse, zum Lager Sobibór wird nicht einmal die geschätzte Opferzahl angegeben.


Abb. 9: Das Ghetto in der Kleinstadt Nowy Sącz wurde mit einer Mauer abgetrennt (Foto von 1942). Die Wohnsituation im Ghetto war dramatisch: Teilweise lebten bis zu 20 Personen in einer Einzimmerwohnung.
(Foto: Annika Wienert, CC BY-SA)

Beim Thema der Ghettos ergibt sich ein Widerspruch zwischen Text und Bildern: Auch wenn der Text darauf hinweist, dass nur wenige Ghettos baulich abgeriegelt wurden, zeigen die ausgewählten Fotos allesamt eine Mauer (hier als Beispiel: Abb. 9). Insofern entsteht zum einen ein selektives Bild der Ghettos, zum anderen hat die jüngere Forschung für das Ghetto in Warschau darauf hingewiesen, dass die Abriegelung keinesfalls hermetisch war, Interaktionen verschiedenster Art zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Stadtbevölkerung weiterhin stattfanden. So dient die Vorstellung einer unüberwindbaren Trennung einem bestimmten, die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft exkulpierenden Geschichtsnarrativ.3 Ergänzt wird der Themenkomplex Lager und Ghettos durch Informationen zum „Generalplan Ost“, zur europaweiten Tätigkeit der Organisation Todt sowie zu Baumaßnahmen der Rüstungsindustrie. Dadurch werden der Umfang und die Reichweite der Bautätigkeiten deutlich, die auch unter den Kriegsbedingungen ab 1941 fortgeführt wurden.

Dem Holocaust, der mörderischen Zwangsarbeit und der Rüstung für einen verbrecherischen Krieg sowie dessen baulichen „Begleitmaßnahmen“ nachgeschaltet ist der vierte Ausstellungsraum, der sich den gigantischen, zum großen Teil nicht mehr realisierten Repräsentationsprojekten unter anderem für München (Abb. 10), Nürnberg, Weimar und Berlin widmet. Für Berlin wird gezeigt, wie direkt Albert Speer in die Enteignung und Vertreibung der Berliner Juden und Jüdinnen involviert war. Diese selbst erscheinen aber nur ex negativo: In einem Berliner Stadtplan von 1941/42 wurden verschiedene Quartiere als „judenrein“ ausgewiesen (Abb. 11).


Abb. 10: Das Planungsmodell Münchens belegt, wie weitreichend das Stadtzentrum umgestaltet werden sollte.
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Foto: © Andreas FranzXaver Süß)


Abb. 11: Albert Speers Planungen für Berlin gingen mit umfangreichen Enteignungen und Vertreibungen von Juden und Jüdinnen einher.
(Foto: Janaina Ferreira dos Santos, ZZF Potsdam, CC BY-SA)


Abb. 12: Die alphabetische Anordnung der Biogramme von verantwortlichen Politikern, Architekten und Stadtplanern hat der Ausstellung die Kritik eingebracht, in unterschiedlichem Maße involvierte Personen gewissermaßen auf eine Stufe zu stellen: Auf Fritz Sauckel, Gauleiter von Thüringen und ab 1942 „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“, folgt etwa der Architekt Hans Scharoun, der zwar in Deutschland blieb, aber sich den Nationalsozialisten nicht andiente.
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Foto: © Andreas FranzXaver Süß)

Im fünften Raum werden 150 Kurzbiografien „deutscher Architekten, Ingenieure, Handwerker und Baubeamter, darunter vier Frauen“ (Katalog, S. 294) inklusive Porträtfotos umlaufend in zwei Reihen und in alphabetischer Reihenfolge präsentiert (Abb. 12). Dass ihre Beteiligung an oder Haltung zu den nationalsozialistischen Verbrechen durchaus unterschiedlich zu bewerten ist, wird im Wandtext allgemein formuliert; die einzelnen Biogramme geben darüber aber wenig Aufschluss.


Abb. 13: An der Stirnseite des fünften Ausstellungsraums werden erneut zeitgenössische Fotografien von Konzentrationslagergedenkstätten gezeigt.
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Foto: © Andreas FranzXaver Süß)

Die Ausstellungstafeln in der Mitte des Raumes befassen sich mit den architektonischen Planungen unter den Bedingungen des „totalen Krieges“, darunter auch mit den Wiederaufbauplänen, an denen seit 1943 gearbeitet wurde. Es finden sich hier zudem Beispiele für Umnutzungen ehemaliger Konzentrationslager nach Kriegsende (etwa Sozialwohnungen in ehemaligen SS-Bauten in Flossenbürg Ende der 1950er-Jahre), die mittlerweile allesamt Gedenkstätten sind. Ergänzt wird das in diesem Raum präsentierte historische Material erneut durch Luftbilder Viertlböcks (Abb. 13).

Hier könnte die Ausstellung einen Abschluss finden, was deren Architektur auch nahelegt, da es sich bei dem fünften um einen „gefangenen“ Raum handelt. Es folgt aber noch ein durchaus umfangreicher Annex, der in der „gläserne[n] Passage zwischen Pariser Platz und Holocaust-Mahnmal“ (Katalog, S. 13) gezeigt wird und sich mit der Entwicklung vom Kriegsende (Abb. 14) bis in die Gegenwart in beiden deutschen Staaten bzw. im vereinten Deutschland beschäftigt.


Abb. 14: Als Übergang zum frühen Städtebau in der Bundesrepublik und der DDR wird die bauliche Entnazifizierung Deutschlands unter alliierter Besatzung thematisiert.
(Ausstellungsansicht „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, 19.4.–16.7.2023, Akademie der Künste am Pariser Platz, Berlin; Foto: © Andreas FranzXaver Süß)

Trotz der thematischen Breite und der Einbeziehung des Planungsprozesses erscheint der Architekturbegriff, welcher der Ausstellung zugrunde liegt, eigentümlich eng gefasst: Soziale Folgen, Auswirkungen auf Individuen, Familien oder Gruppen werden meist unkonkret oder allgemein beschrieben. Die Aussage des Kurators Benedikt Goebel, „die NS-Architektur“ sei „für die Ausstellung wie für das gesamte Forschungsvorhaben nachrangig“ (Katalog, S. 13), verwundert in zweierlei Hinsicht. Zum einen erstaunt der schiere Umstand, dass bei einem Projekt, dass sich dem Bauen und Planen widmet, die Architektur en passant für sekundär erklärt wird. Zum anderen werden so „Organisationsstrukturen“, „Produktionsbedingungen“, „Folgen der NS-Baupolitik“ und handelnde Personen (ebd.) – Punkte, die laut Goebel stattdessen im Fokus standen – aus dem Verständnis von Architektur ausgeklammert. Dieser Architekturbegriff ist nicht auf der Höhe der theoretischen Diskussionen der aktuellen Architekturgeschichte und wird vermutlich auch nicht von allen beteiligten Autor:innen geteilt.

Ein weiterer grundsätzlicher Kritikpunkt betrifft die Auffassung davon, wer als relevante handelnde Person zu begreifen ist. In der Ausstellung treten fast nur NS-Funktionäre und Architekten in Erscheinung. Die Opfer ihres Handelns bleiben, sofern sie überhaupt vorkommen, in der Regel anonym. Gefangene des KZ Flossenbürg, die im Steinbruch Zwangsarbeit leisten, dienen als Motiv des Ausstellungsplakats und des Katalogcovers – als Individuen treten Gefangene der verschiedenen Lager aber nicht in den Vordergrund. Entrechtung, Enteignung, Verfolgung und Mord werden benannt und nachvollziehbar mit den Bau- und Planungsaktivitäten verknüpft, aber es wird selten einmal konkret gemacht, was dies für die Opfer bedeutete. Auch der spezifische Charakter des Holocausts als Mord an Juden:Jüdinnen wird kaum benannt (die Rezensentin konnte den Begriff außerdem nicht in den Begleittexten oder im Katalog entdecken).


Abb. 15: Vladimír Matějka, Marsch zum Klinkerwerk, Aquarell, 1985. Das Gemälde des tschechischen Überlebenden der Lager Dachau und Sachsenhausen gehört zu den wenigen Selbstäußerungen von Verfolgten des Nationalsozialismus, die in der Ausstellung zu finden sind.
(Foto: Janaina Ferreira dos Santos, ZZF Potsdam, CC BY-SA)

Namen und Selbstäußerungen von individuellen Opfern des Komplexes „Bauen und Planen im Nationalsozialismus“ sind in der Ausstellung äußerst spärlich zu finden. Sie seien hier abschließend genannt: Zu hören sind kurze Ausschnitte aus den publizierten Berichten der Überlebenden Thomas Toivi Blatt (Sobibór), Rudolf Reder (Bełżec), Richard Glazar und Jankiel Wiernik (beide Treblinka). Letzterer musste als Schreiner diverse Bauten im Lager Treblinka errichten und fertigte nach dem Krieg in Israel ein Modell des Lagers an, das im Museum des Ghetto Fightersʼ House ausgestellt wird und von dem jetzt in Berlin ein Foto gezeigt wird. Vom Künstler Arnold Daghani stammt eine Zeichnung, die er während seines Zwangsarbeitseinsatzes an der bis Kriegsende über 1.000 Kilometer langen sogenannten Durchgangsstraße IV in der besetzten Ukraine anfertigte. Schließlich ist noch ein Aquarell von Vladimír Matějka ausgestellt (Abb. 15). Es entstand erst 1985 und gibt somit einen Hinweis darauf, dass die Überlebenden von ihren Erfahrungen im Lager langfristig gezeichnet blieben.

Anmerkungen:
1 Die Unabhängige Historikerkommission „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ (Hrsg.), Planen und Bauen im Nationalsozialismus. Voraussetzungen, Institutionen, Wirkungen, 4 Bde., München 2023. Zur Kommission siehe auch https://www.bmwsb.bund.de/Webs/BMWSB/DE/historikerkommission/historikerkommission-node.html (20.06.2023).
2 Andrea Bärnreuther, Revision der Moderne unterm Hakenkreuz. Planungen für ein „neues München“, München 1993, S. 95.
3 Elżbieta Janicka, A Triumphant Gate of the Polish Narrative. The Symbolic Reconstruction of the Bridge over Chłodna Street in Warsaw vis-à-vis the Crisis of the Dominant Polish Holocaust Narrative, in: Studia Litteraria Historia 8 (2019), https://doi.org/10.11649/slh.2417 (20.06.2023).

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